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Die aktuelle Situation eigentlich der Super-GAU: Der Sohn oder die Tochter lebt in einer WG, die jungen Leute dürfen nicht arbeiten, überall ist das Virus und wir Eltern haben keinen Einfluss auf den Alltag. Kann man sich darauf verlassen, dass das gut geht? Die inklusive WG am Eck in Gießen besteht seit gut anderthalb Jahren. Hier wohnen aktuell 4 Menschen mit Unterstützungsbedarf und 5 ohne.

Wie ist der Blick der Eltern der Bewohner*innen mit Unterstützungsbedarf auf die WG in dieser Zeit? Katja hat mit Reiner und Mechthild Brandbeck gesprochen, den Eltern von Christopher. Sie erzählen nicht nur vom inklusiven Leben zur Corona-Zeit, sondern auch vom Entstehen der WG.

Wie erlebt Ihr als Eltern die Corona-Zeit?

Inzwischen sind die Maßnahmen nicht mehr so strikt. Ganz am Anfang hat die WG sich selbst strenge Regeln auferlegt mit regelmäßigem Händewaschen, Desinfizieren und reduziertem Körperkontakt. Kaum jemand hatte noch Umgang außerhalb der WG. Dennoch gab es die ganze Zeit über für uns als Eltern die Möglichkeit, unsere Kinder zu sehen. Das haben wir nicht über die Maßen ausgenutzt – wir waren selten und kurz in der WG, aber Christopher war über Ostern zuhause bei uns.

Eine inklusive WG ist eben ein privater, ambulant unterstützter Haushalt und damit anders organisiert als eine stationäre Wohneinheit, wo die Bewohner*innen noch einmal anders abgeschottet von der Außenwelt waren. Eine gute Bekannte hat uns erzählt, wie schwierig es für alle Beteiligten ist, wenn Menschen mit Unterstützungsbedarf in Wohnheimen mit Kontaktverbot wie in Altenheimen leben müssen. Wir waren sehr froh darüber, dass uns das nicht so ging!

Es war von vornherein klar, dass Christopher in der Corona-Zeit in der WG bleibt. Er wollte das so, wir wollten das so und die WG auch. Aber er kann jederzeit zurück zu uns nach Hause kommen, wenn nötig. Das zu wissen, ist für alle gut. Aber zugleich machen wir als Eltern auch deutlich, dass wir der WG-Leitung und den Mitbewohner*innen vertrauen.

Das ist ja nicht nur in der Corona-Zeit wichtig, oder?

Genau. Es ist für Eltern ganz wichtig, die eigenen Kinder loszulassen. Christopher war 24, als er Pfingsten vor 2 Jahren einzog. Da hatte er die Schule beendet und einen Arbeitsplatz gefunden. Für ihn hat sich mit dem Einzug in die WG eine neue Welt aufgetan: Er ist mit Gleichaltrigen zusammen und viel selbständiger geworden.

Christopher will nicht mehr zurück. Wenn wir ihn mal bei uns haben wollen, müssen wir ihn mit seinem Lieblingsessen locken. Oder sein Bruder aus Berlin kommt zu Besuch.

Aber Loslassen ist etwas, das man erst mal lernen muss als Eltern. Auch in dieser WG lauern die drei Gefahren, die Eltern meistens sehen: Zu viele Süßigkeiten, zu wenig Bewegung und zu wenig Schlaf im Zusammenhang mit zu viel Handy. Aber wir haben mit Frauke und Silke zwei engagierte WG-Leiterinnen, die das mit dem „WG-Plenum“ nicht durch Verbote, sondern durch Motivation zu regeln versuchen.

Könntet Ihr Euch vorstellen, dass Ihr als Eltern die WG organisiert?

Nein. Bei unseren anderen Söhnen kämen wir erst gar nicht auf so eine Idee. Das passt zum Thema Loslassen. Wir als Eltern haben die Idee für die WG gehabt und die Initiative dazu ergriffen, aber schon bald mit der Lebenshilfe Gießen zusammen gearbeitet.

Christopher als „Alltagsbegleiter am Eck“: Hier hat er sich selbst einige hauswirtschaftliche Aufgaben der WG gegeben – er vermisst seine Arbeit und freut sich, wenn er zuhause zu tun hat!

Wie ist die WG entstanden?

Wir haben uns als Elterngruppe aus inklusiven Zusammenhängen gefunden – Kindergarten, Sophie-Scholl-Schule. Zunächst trafen wir uns alle 4-6 Wochen privat und überlegten, wie wir und unsere Kinder uns das zukünftige Wohnen vorstellten. Es entstand ein Prozess, in dem wir uns mit inklusiven Wohnmodellen in anderen Städten beschäftigten. Wir besuchten sogar die WG in Saarbrücken und bekamen Besuch von der WG aus München mit Tobias Polsfuß von Wohn:sinn. Christopher war gleich total begeistert! Unterdessen trafen wir uns häufiger und auch schon mit der Bereichsleitung Wohnen der Lebenshilfe. Zugleich haben wir in der Elterngruppe überlegt, wie man an geeigneten Wohnraum herankommt. Wir sind schlichtweg unsere Kontakte durchgegangen und mit offenen Augen und Ohren und Verstand durch die Stadt gegangen. Schließlich kamen wir mit einem Bauträger ins Gespräch, der in einem seiner Bauvorhaben noch Platz hatte. Nachdem kurz vom Verkauf der Wohnung an uns Eltern die Rede war, ergab sich glücklicherweise der Kontakt zu zwei Investoren. Diese kauften die Wohnung und vermieteten sie an die Lebenshilfe als Träger der WG mit den Wohnenden zur Untermiete. Wir wollten, dass die Kinder und zukünftigen WGMitglieder unabhängig sind von uns Eltern – Loslassen eben. Beim Folgenden nahmen wir Eltern uns dann ganz heraus.

Auch die jungen Leute sahen sich regelmäßig und die Lebenshilfe organisierte außerdem vorbereitende WG-Wochenenden. Einige Zeit vor dem Einzug ging es dann los mit dem „WG-Casting“ für die weiteren WGMitglieder ohne Unterstützungsbedarf. Auch mit denen gab es anschließend Treffen zum besseren Kennenlernen.

Diese ganze vorbereitende Planung wäre weitaus komplizierter gewesen, wenn wir Eltern das ohne einen Träger hätten stemmen müssen. Ebenso die Klärung der Kostenübernahme, sowie der ganze tägliche Klein- und Großkram der WG – wir hätten dazu nicht die Kompetenz gehabt und auch die Mühen gescheut. Das Konzept  dazu mit den Eckpunkten, die uns wichtig waren, hatten wir in der Anfangszeit gemeinsam mit den Verantwortlichen der Lebenshilfe erarbeitet. Es wird so umgesetzt, wie wir uns das gewünscht haben.